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Freitag, 18. Januar 2013


Sämtliche Gesellschaftsschichten haben wir gerade durchschritten. Drehen wir die Uhr um gut drei Stunden zurück. Anna und ich sitzen schwer bepackt mit unseren großen Rucksäcken im ‚Comsum‘, dem Bahnhofsimbiss in der Pune Mainstation. Sehnsüchtig blicke ich auf die vollautomatische Kaffemaschine und das nebenan angebrachte Preisschild, das ‚Cappuccino‘ offeriert.
„Today no coffee available“ lautet die ernüchternde Aussage des Verkäufers, sie lässt mich ein wenig enttäuscht auf zuckersüßen Nesscafé ausweichen. Aber was solls‘, Hauptsache ein Geschmack. Anna und ich sind mächtig stolz auf unser Ticket. Als wir Anfang der Woche noch immer keines hatten, war die Warteliste natürlich schon ins unendliche gestiegen und die Aussicht auf eine Zugreise trüb wie die Luft über Pune während der Rushhour. Warum sind wir eigentlich so naiv? Mittlerweile wissen wir, dass längere Fahrten schon Wochen davor gebucht werden müssen. Nach zwanzig Minuten Anstehen sagt uns das auch der Officer. Wir müssen auf das Zwischenseminar! Wir klopfen kühn an der Tür des Chief Reservation Administrators und berichten ihm unsere Situation. Ernste Blicke unsererseits, eine Unterschrift seinerseits und 5 Minuten später halten wir unser Ticket in den Händen.
Ich bin sicher, dass der Fakt, dass wir aus einem anderen Land kommen eine entscheidende Rolle spielte. Es ist ein weitläufiges Thema wie der Inder mit Ausländern umgeht, das ich jetzt hier nicht komplett ausführen möchte. Es sei nur so viel gesagt, dass wir uns in Deutschland von den Menschen hier sicher eine gehörige Scheibe abschneiden können was Hilfsbereitschaft und Gastfreundlichkeit betrifft.
Das Seminar wird am Montag in Udaipur, Rajastan beginnen. Doch da wir eh in den Norden mussten war noch ein Abstecher für Ahmedabad in Gujarat drin, der uns zwei Tage zu unseren Kollegen im CEE Hauptquartier ermöglichen würde. Dort hinbringen soll uns der Ajmer-Express. Auf den warten wir nun im „Comsum“.
Die Tickets sind nicht confirmed, nicht bestätigt. Wir hängen noch auf der Warteliste. Das wird uns nun 5 Minuten vor Einfahrt bewusst; wir haben keine Plätze. Der wild gestikulierende Schaffner macht uns wenig Hoffnung. Trotzallem entscheiden wir uns nach langem Hin und Her den Zug in der Sleeper-Class zu besteigen. Das ist die günstigste Schlafklasse in der wir noch auf freie Pritschen hoffen. Schon in der Tür wird uns das Ausmaß der Warnung „it’ll be crowded“ bewusst. Man drängelt, schubst und schiebt sich gegenseitig in der Gegend herum. Chai-Verkäufer schreien „Chai“, wollen verkaufen. Ein Mann drückt eine Kühlbox mit Eis durch den Gang. Es ist kalt im Sleeper, wo es keine Scheiben gibt. Der Zug beginnt zu Rollen. Anna die noch an der offenen Tür steht ruft mir zu, ich bin derweil schon ins Abteil gedrängt. Wir fragen uns schreiend ob wir uns das wirklich antun wollen oder ob wir noch abspringen sollen, doch als ich Anna erreiche ist der Zug schon zu schnell. Gnadenlos überfüllt ist es, alle stehen im Gang und wollen durch. Alle bleiben an unseren Rucksäcken hängen. Kinder wuseln rum, Alte schlafen auf den Liegen. Als wir im Durchgang zum nächsten Waggon stehen kommt uns ein einbeiniger Bettler entgegen, dichtgefolgt von einem Blinden. Wir gehen weiter, obwohl uns der Kontrolleur abermals versichert keine Betten zu haben. Trotzdessen dass wir auf der Warteliste stehen besitzen wir ein bezahltes Ticket der 3-AC Klasse, weshalb man uns nicht aus dem Zug werfen kann. 3-AC ist die dritte Klasse. Hier sind die Fenster verglast und es werden Leintücher und Decken zum Schlafen bereitgestellt. Immer noch relativ günstig bucht man am besten hier seine Reservierung, vor allem wenn man vorhat in den kühlen Norden zu fahren.

Als wir die Türe hinter der  Sleeper-Class schließen nimmt der Geräuschpegel unmittelbar ab. Weiterhin kommen im Sekundentackt „Wallas“ vorbei die Malbücher, Süßigkeiten oder Zauberwürfel verkaufen wollen und im Gang ist es eng, doch weitaus komfortabler. Es wird deutlich, dass hier nicht die gleichen Menschen reisen als die, die wir noch einige Minuten vorher um uns hatten. Die Passagiere in 3-AC sind nicht auf das Rudimentärste angewiesen, können sich einen gewissen Komfort leisten. Hier finden wir ein nettes älteres Ehepaar das uns anbietet für einige Zeit sitzen zu können, bis wir etwas gefunden haben. Die Hoffnung auf eine Pritsche habe ich inzwischen aufgegeben. Ich sehe uns die Nacht auf unseren Rucksäcken sitzend im Gang neben den Toiletten verbringen. Alles Abenteuer. Ich habe das Gefühl Anna findet Abenteuer nicht so toll. Aber auch ich dachte ursprünglich an ein paar Stunden Schlaf. Ein anderer „Wartender“ den wir schon einige Zeit vorher kennengelernt hatten erzählt mir fröhlich, sein Ticket sei bestätigt worden und bringt mich anschließend zum Conducter. Hoffnung? Vorsichtig frage ich, ob irgendwo eine Bank oder eine Pritsche übrig ist, als er uns zu zwei Betten in der 2-AC dirigiert. Die nächsthöhere Klasse. Er bietet uns an das Ticket up zu graden, also gegen Aufpreis dort zu schlafen. Wir zogen diesen der Nacht im Gang schlussendlich vor und befinden uns nun somit in einem komfortablen Abteil. Verkäufer schaffen es bis hierher meist nicht. Es gibt Leselicht, breite Pritschen und Strom. Das Geld das wir hier für die Fahrt bezahlen ist mindestens das Dreifache das wir im Sleeper bezahlt hätten, dementsprechend wohlhabender sind auch die Menschen hier. Im Sleeper oder 3-AC ist es interessanter und irgendwie auch ungezwungener, doch diesmal ging es eben nicht anders.
Es ist ein eigenartiges Gefühl wenn ich mir überlege, dass, je weiter man sich Richtung Zug-Ende denkt die Personendichte enorm zu-, aber dementsprechend Komfort und auch Preis enorm abnehmen. Ganz am Ende im General-Compartment, wo es überhaupt keiner Reservierung bedarf und das Ticket nicht mehr als ein paar Rupien kostet, werden die Menschen auf den Gepäckablagen sitzen und sich die Bank zu fünf oder sechst teilen. - Indien in einem Zug.

Meine Vorläufige Route sieht so aus, dass ich morgen in Ahmedabad ankomme, am Sonntag zum achttägigen Seminar nach Udaipur fahre. Danach nehme ich den Bus nach Jaisalmer in der Thar Wüste und fliege am 2. Feb. von Jaipur nach Mumbai, zurück nach Maharashtra.